NEW WAVE in Harburg – Lärmfieber aus dem Kinderzimmer

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Kassetten-Cover | Harburg Sampler 1982 | (c) Jens Ullheimer

Mit dem Siegeszug der ersten bezahlbaren ( Korg ) Synthesizer, ( Casio ) Keyboards und ( Roland ) Drumcomputer entstand in Deutschland Anfang der 1980er Jahre eine neue radikale Kultur des Musikmachens. Die produktionstechnische Unabhängigkeit und die Angst vorm anstehenden Weltuntergang förderten den experimentellen Umgang mit Popmusik.


Das Aufeinandertreffen der Kunst- und Musikszene, die Durchmischung der Interessen im Bewusstsein einer Abgrenzung gegen Staatsgewalt und redundante Diskussionskultur führten zu einer neuen Sicht auf Kunst- und Musikproduktion.

Gehandelt wurde im Aktionsmodus des (Post-)Punk: schnell und auf den Punkt gebracht.

Die Protagonisten der neu aufkeimenden Untergrundmusik praktizierten in ihren frisch gegründeten Heimstudios eine “ungerichtete Aggression der befreiten Geräusche”

Frank Apunkt Schneider, “Als die Welt noch unterging

Ende der 1970er Jahre gab es einen totalen Bruch der musikalischen Berichterstattung im damals einzig ernstgenommenen Musik-Magazin „Sounds“ ( heute SPEX ). Mit dem Titel-Slogan “ London brennt “ übernahm eine neue Generation die Redaktion und beförderte – die von Rock zu Kunstrock mutierten Bands – mit einem Arschtritt ins Museum der Musikgeschichte.

Fortan wurde eine ganze Generation mitgerissen, von den neuen kreativen Möglichkeiten, die nur 3 Akkorde forderten (Punk) und den nun günstigen Produktionsmitteln.

Deutsche Texte erlebten einen nie gekannten Boom in der modernen Musik. Ein kleines Keyboard von CASIO – inklusive Drumsounds – eroberte die Klassenzimmer, auch der Harburger Gymnasien.

Ticket-Foto: Jens Ullheimer
Ticket-Foto: Jens Ullheimer

Dead Kennedys, Slime, Napalm

In der Harburger Friedrich-Ebert-Halle performen die Dead Kennedys ein – auch vom Publikum radikal interpretiertes – Konzert am 6. Dezember 1982. Die Friedrich-Ebert-Halle, bislang bekannt durch Schlager und als Stamm-Quartier des berüchtigten Herbert Kauschka Akkordion Orchesters, wurde an diesem Abend quasi in Schutt und Asche gelegt.

Der Sänger Jello Biafro ruft zur Teilnahme am 1. Chaostag in Hannover auf. Dort liefern sich dann am 18. Dezember 1982 Punks ( & Modernists ) und die Polizei eine legendäre Schnellballschlacht vor dem JZ.

Die Szene war ja am Anfang i.d.R. gewaltlos, provokativ und mit hohem Spaßfaktor beseelt. Das spiegelt sich auch im Verhalten der Polizei – für mich eine der eindrucksvoll, lustigsten Begegnungen mit den Vertretern staatlicher Macht ever.

VIDEO | Dead Kennedys – Holiday In Cambodia


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Z E I T S P R U N G

Harburg - Freizeitzentrum Nöldekestraße - 1982 +

Die ganze Republik war besetzt von staatlich kontrollierten Jugendzentren.
Nur 2 Enklaven boten freien Geistern eine Diaspora für die persönliche Entfaltung:

1 Jugendzentrum in Nürnberg
(selbstverwaltet – von der bayrischen Polizei gestürmt und geschlossen, inklusive Masseninhaftierung von anwesenden Jugendlichen)

und das

Jugendzentrum Nöldekestraße FZ
(selbstverwaltet und von dermaßen Ungemach verschont – auch das ist ein Zeichen für die liberale Haltung der Hansestadt Hamburg)

Die Nöldekestraße / Das FZ war damals ein einzigartiger kreativer Schmelztiegel mit legendären Parties und Konzerten. Hier konnte sich die Harburger New Wave – Szene weitgehend ungestört und gewaltlos entwickeln. Die noch hippie-esk benannte „Teestube“ wurde zu dem zentralen Treffpunkt der Harburger Kreativen. Kaum ein Abend, an dem nicht neue Aufnahmen der regionalen Musiker über die Soundanlage abgespielt wurden. So wusste jeder Interessierte, was gerade lief und konnte Kontakte knüpfen, die dann in den verschiedensten Kollaborationen mündeten.

Neben der Produktion des Kassettensamplers Harburg 1982 holte Jens Ullheimer die damals populäre Mod-Band STUNDE X auf die Bühne des FZ, eines der wenigen zeitgenössischen Konzerte mit überregionaler Beteiligung im Hamburger Süden, neben den legendären Auftritten der TOTEN HOSEN im FZ und der DEAD KENNEDYS in der Ebert-Halle.

In den Zeitraum Anfang 1980er Jahre fällt auch Jens Ullheimers Zusammenarbeit als Redakteur „Hannover“ für das 1. Deutsche Kassetten-Magazin zum Thema „Moderne Musik“. In Hannover gab es von ihm Interviews und Begegnungen mit dem Label NO FUN,  Hollow Skai und der Band 39 Clocks. Der Herausgeber war ( Teenie ) Tim Renner, Ex-Geschäftsführer Universal Music, Musikproduzent, Journalist und Autor; von 2014 bis 2016 war er Berliner Staatssekretär für Kultur.


Lärmfieber aus dem Kinderzimmer

Anfang der 1980er Jahre wurde für kurze Zeit Deutschlands Musikszene in einen Zustand euphorischen Lärmfiebers versetzt.

Aus Hamburg-Harburg kam zum Beispiel die Cassetten-Compilation “Mami´s Lieblinge” – 1982 veröffentlicht von Jens Ullheimer unter dem POP-Aktivisten-Label “Gut Schlafen – Froh Erwachen” – [tatsächlich ein damaliger Werbe-Slogan für eine Versicherung]. Der Sampler spiegelte im Wesentlichen den Harburger kreativen Overkill mit einem Mix von Punk, Neue Deutsche Welle – Persiflagen, ambitioniertem New Wave und Experimentalstücken.

Der Minimalismus vieler Produktionen aus dieser Zeit war oft auch produktionstechnisch begründet: Es standen nicht mehr als 4 Tonspuren für Aufnahmen zur Verfügung.

Das DORSCH-Studio war damals DER zentrale Ort, wenn es um Aufnahmen in den verschiedensten Kollaborationen ging. Dorschi bot zum Glück aller Beteiligten eine Kombination aus technischer Expertise, kommunikativer Offenheit und kreativem Input. [ Angelo Vitalo, Galerie Lochte, Chanel No. 2, La Chaleur ]

Kassettensampler

MAMI´S LIEBLINGE [ Extended Version ]

Harburg 1982 | Eine DIY-Produktion von “ Gut Schlafen – Froh Erwachen „

AUDIO PLAYER | New Wave / Post Punk in Hamburg-Harburg | Die Protagonisten u.a. :

In Erinnerung an die Coming-of-Age-Zeit 1978 – 1984:

Andreas Brohme – Stefan Brohme – Thomas Brandes – Andreas Bleck – Peter (Ptjotr) Behrendt – “Ö” we Behrendt – Thorsten Dorsch – Renate Dankert – Jörg Elzholz ( Hannover ) – Andreas Gerth – Andreas Immenhof – Christoph Jahns – Jan Kersten – Corinna Laukens – Rolf Menk – Carsten Müller (Fotografie) – Thorsten Peters ( Lem / multi-media producer ) – Uwe Schneider – Ulrich Tappe – Jan Ullheimer – Jens Ullheimer (digitale medien) – Victoria – Tatjana Wischnowski – flexKDshi


NETLABEL | Dance On The Noise Floor

dance-on-the-noise-floor.blogspot.de

Der Harburger Rolf Menk ( alias Pierre Godot ) hat 2017 ein Netlabel gestartet, auf dem – neben ihm selbst – einige Beteiligte aus den frühen 1980er Jahren veröffentlicht wurden (u.a. Jörg Milevczik („Jörg und die wilde 55“) und „Was keiner wusste“. Mit dabei auch das legendäre Harburger (yello-eske) Produzenten-Duo „GALERIE LOCHTE„, u.a. mit einer audio-technisch aufbereiteten Version ihres damaligen Sommer-Hits „Sie war der Frühling“.

Besonders interessant ist das Konzept, von einer zentralen Plattform auf Audio-Veröffentlichungen von archive.org zu verweisen.  Hier wird das Internet Archive in San Francisco genutzt, ein gemeinnütziges Projekt, das 1996 von Brewster Kahle gegründet wurde. Gestartet als reines Webarchiv, wurde es schon 1999 um weitere Archive erweitert. Heute umfasst es Sammlungen von Texten und Büchern, Audiodateien, Videos, Bildern und Software. Es hat sich die Langzeitarchivierung digitaler Daten in frei zugänglicher Form zur Aufgabe gemacht und legt dabei Wert auf Zugangsmöglichkeiten für blinde oder anders eingeschränkte Nutzer. Neben der Funktion als Archiv versteht sich das Internet Archive auch als Aktivist für ein offenes und freies Internet sowie den Erhalt und die Verbreitung gemeinfreier Werke. Unabhängig vom Initiator wird damit der langfristige Zugang zu den veröffentlichten Medien erhalten.

Mir bleibt besonders Rolf Menk´s  Titel „Mucki Pinzner war ein böser Bub“ in Erinnerung, leider nirgendwo zu hören, aber ZickZack-Single-würdig.

Rolf war einer der Wenigen, der das damalig moderne Tascam Portastudio 244 ( 4-Spur-Overdub.Kassette ) sein Eigen nannte.

Ein Beispiel aus dieser Zeit ( ca. 1984 ) ist die folgende Aufnahme „Monochrome Settings“ von Jens Ullheimer ( Gitarre, Harp ) und Rolf Menk ( Bass, Studio Technics ).

      monochrome-settings

Mischung aus Spät-1960er-Surf-Psychedelia-Instrumental, mit schnellem Yardbirds-like Rhythm & Blues-Solo und frühen Jam. Hommage an die fantastische 1980er Band Monochrome Set.


VIDEO | Pierre Godot (1982/2019) Straße-Spielhalle-Schlaf | Street-Arcade-Sleep

Die verrückte Welt der Assoziation: Mir kam eine Erinnerung an eine Episode von 1982 in den Sinn. Ich lebte mit einem Schlagzeuger in einer Art Lagerraum an der Nöldekestraße in Hamburg-Harburg. Es war f***kalt da drin und wir hatten weder einen Kühlschrank noch eine Kaffeemaschine. So mussten wir sonntags in eine Passage gehen, um ein warmes Zimmer und ein schönes Frühstück zu genießen- Später nahm ich eine Soundcollage namens „Street-Arcade-Sleep“ auf, die nun im Video zu sehen ist.


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